1879

Über die Mure des Jahres 1879 liegen mehrere Berichte vor. Am 4.9.1879 schilderte Kurat Johann Schöpf im ,,Tiroler Bote``, Jahrgang 1879 Seite 1662, das Unglück, das die Gemeinde Inzing am 31. August (Schutzengelsonntag) um ½9 Uhr abends traf:

Es begann an diesem Tage beiläufig um ½8 Uhr abends ein fürchterliches Donnerwetter, das sehr nieder dahinzog. Es donnerte in ganz eigentümlicher Weise; Donner und Blitz folgten in einem fort schnell aufeinander. Die Leute sagten, daß sie nie ein solches Donnerwetter erlebt haben; es war in Inzing ebenso schrecklich, wie drüben in Zirl, es erfüllte also das ganze Tal. Hier in Inzing regnete es sehr stark.

Beiläufig um ½9 Uhr hörte man ein ungeheures Brausen und Poltern. Mit ungeheurer Schnelligkeit wälzte sich die Mur aus dem Tal heraus gegen das Dorf.

Im Tal und wohl im ganzen Gebirge von Oberperfuß ober dem Ranggen her muß es fürchterlich geregnet und dabei zugleich gehagelt haben. In der Gegend vom Filz herab fand ein Wolkenbruch, mit Hagel vermischt, statt. Die Hirten in der Alpe drinnen, die doch schon mehr draußen und über dem Wetter waren, sagen, daß es auch drinnen wie mit Schäffern gegossen habe.

Die Folge dieses Unwetters waren Murbrüche, die hineinwärts auf der linken Seite durch die gegen den Filz sich hinauf ziehenden Tälern in die Tiefe hinabstürzen. diese Murbrüche fanden hauptsächlich herab durch das Rotbrünndl-, Heinzmiller-, Hires- und Hundskehlertal statt.

Ohne Zweifel wurde durch diese Murbrüche der in der Tiefe fließende Bach des Haupttales aufgestaut, sodaß eine große Wassermenge zusammenkam, endlich durchbrach und mit unsäglichem Wust von Kot, Steinen und Bäumen dahinstürzte.

Voraus zog eine Masse Holzes, das in der Bachrunst fast bis zum Inn hinabkam, dort vor dem Einfluß in den Inn die ganze Runst versperrte und so bewirkte, daß die nachfolgende Mur weiter hinauf die Runst füllte, so daß es droben zum Ausbruch kommen mußte.[*] Dieses geschah bei der Gaperser-Brücke[*], etwas ober der Feldung noch im Berggebiet.

Ein kleiner Teil der Mure strömte links (Hattinger Seite) hinaus. Weitaus der größte Teil nahm den Weg durch eine Vertiefung rechts gerade auf das Dorf Inzing hinab. Es ist unglaublich, welch eine Masse von Steinen, umgehenden Felsblöcken, Bäumen, Holz und Schlamm mit dem Bach, der seine Runst ganz verlassen hatte, sich daherwälzte. Blieb auch ein Teil dieser Masse im Berggebiet liegen, der größte Teil wälzte sich doch durch die Felder herab. War sie oben durch die Bodenvertiefung mehr zusammengehalten worden, in der Wiese fand sie Raum, sich weit mehr auszubreiten.

Man kann sagen, daß der Murstrom ober den obersten Häusern der Kohlstatt eine doppelte Richtung nahm. Ein Teil wälzte sich den Weg nach hinab, der zwischen den Häusern hinauf führt (heute Kohlstatt). Eine Sägemühle[*], die er da traf, bot ihm eine Menge Holz, Bäume und Läden, die da aufgeschichtet lagen. Er führte dieses Holz eine Strecke hinab, da staute es sich auf, bildete eine Klause und bewirkte, daß nur mehr der dünnere Teil der Mure zur und durch die an die Kohlstatt sich anschließende Bachgasse[*] herabkam, der grobere Teil sich ober der Sperre weithin ablagerte.

Der andere Teil nahm durch die Wiese herab, sich immer mehr ausbreitend, die Richtung zur Kirche und zum Außerdorfe, dem westlichen Teil des Dorfes, zu. Mit aller Gewalt stürzte ein Teil dieser Masse am sogenannten Schlößl vorbei, auf die Kirche los, zertrümmerte die dem Berg zugewandte Seitentüre[*] und drang durch dieselbe in die Kirche ein. Vor der Haupttüre staute sich das Holz auch auf und lenkte den Strom gegen die Türe. Diese wurde gleichfalls zertrümmert und es wurde die ganze Kirche mit Schutt und Kot angefüllt bis über die Stühle herauf, sodaß der Kot selbst die Mensen der Seitenaltäre bedeckte. Die schöne, neurestaurierte Kirche[*] ist wieder schauerlich verwüstet.

Der andere Teil dieses westlichen Murstromes wälzte sich durch die Marktgasse[*] herab oder stürzte durch die Felder hinunter gerade auf die Häuser des Außerdorfes zu und richtete da seine Verwüstung an.

In einem der Häuser ist auch ein Menschenleben zu beklagen.[*]

Die Bewohner des Hauses hörten das schreckliche Poltern, und der Hausvater eilte dem Stalle zu, um die einzige Kuh zu retten.

Im Vorstalle wurde er von der herinstürzenden Mure überfallen und versuchte durch den Oberboden an einer Stelle, wo die Dielen faul waren, eine Öffnung zu machen, um in den Stadel hinauszukommen. Da merkte er, daß sich zwei an seine Füße hingen; es waren die Schwester seiner Mutter und ein Knabe. Beide ließen ihn bald loß, er kam glücklich durch die Öffnung herauf. Der Knabe gelangte in den Stall hinein und dort durch ein sogenanntes Schopploch hinauf in den Stadel. Die Weibsperson aber ging da im Vorstall zugrunde.[*] Die Mutter des Mannes, die sich auch in den Stall geflüchtet hatte, wurde mittelst eines Tuches von ihm durch das Schopploch heraufgezogen.

Dieser Mann eilte auch der Familie zu Hilfe, die im dahinter angebauten Hause wohnte.[*] Die Hausfrau, ihre Mutter und ein kleines Kind lagen im Zimmer zu ebener Erde im Bett. An ein Entkommen war für die nicht mehr zu denken. Da gelang es oben genanntem Manne, in die über diesem Zimmer liegende Kammer zu gelangen, eine Öffnung in den Boden zu hauen und diese drei Personen durch dieselbe in die Kammer hinauf zu retten. Ohne diesen Mann wären die genannten drei Personen sicher verloren gewesen.[*] Die einzige Kuh desselben ist aber zu Grunde gegangen.

Zugrunde gegangen sind ferner 6 Stück im Stalle des Wirtes[*], der die 5 andern mit Mühe dadurch retten konnte, daß man die Stallmauer aufbrach. Drei Kühe verendeten bei einem andern Bauern; vielleicht ist noch der Verlust einer Kuh zu den zehn Stücken dazu zurechnen.

Sehr zu verwundern ist, daß nicht mehr Vieh zugrunde gegangen ist und daß man imstande war, bis zum Hals hinauf im Schlamm stehendes Vieh noch herauszubringen. Noch am Mittwoch (3.September) hat man lebende Schweine und Hennen aufgefunden.

Im hohen Grade darf man sich auch wundern, daß kein Haus zerstört worden ist und nicht mehr Menschenleben zu beklagen sind. Wäre die Mure mehr vereint geblieben, hätte sie sich nicht so ausgebreitet, dann würde sie an den Wohnungen gewiß schrecklichere Verwüstungen angerichtet haben; den Häusern der Kohlstatt und Bachgasse wäre es schlimm ergangen.

Der Schaden, den diese Mur durch Überschüttung der Häuser und Felder, durch Wegschwemmung des Grundes, durch die verschiedenartigsten Zerstörungen, durch die Verwüstung der Kirche angerichtet hat, ist sicher ungeheuer und umsomehr schmerzlich, da die Gemeinde unlängst durch einen verderblichen Hagelschlag heimgesucht worden ist und viele dürftige Familien zählt. Inzing ist nicht imstande sich mit eigener Kraft einigermaßen aus diesem Greuel der Verwüstung herauszubringen; es kann nur hoffen auf die Mithilfe barmherziger Menschen und bitten, daß die christliche Nächstenliebe ihre mildtätige Hand öffne und mit ihrem kräftigen Arm unterstütze.

Die Not an Lebensmittel ist vielfach groß und wird sich mit jedem Tage vergrößern. Ich erlaube mir den innigsten Hilferuf an alle mitleidigen Menschenherzen. Nachträglich füge ich bei, daß die gerichtliche Schätzung den Schaden auf 120000 Gulden anschlägt. Ich sage nochmals, der Schaden ist ungeheuer und selbst eine beiläufige Schätzung schwer.

Vor 72 Jahren, gleichfalls am Schutzengelsonntag und fast zur gleichen Zeit, ist ein ähnlicher Murbruch über die Gemeinde Inzing gekommen. Diese Mure war noch schrecklicher als die heurige, wurde aber sicher von der Gemeinde leichter ertragen, da ihr Wohlstand viel größer gewesen. Auch wurde große Beihilfe geleistet an Geld, Lebensmitteln und Arbeit.

Der Wohlstand der Gemeinde hat sehr abgenommen. Die Ursachen davon sind hier, wie anderswo, mehrere. Die Leute haben kein Geld und darum ist das Unglück weit drückender. Die Entmutigung ist groß, bei vielen herrscht völlige Verzweiflung; die Leute sagen: ,,Wir sind ruiniert.`` Da auch der Feldsegen durch den Hagel sehr vermindert ist, steht für viele Familien ein sehr trüber Winter vor der Türe.

Möge das freundliche Mondlicht barmherziger Nächstenliebe unsere Not erhellen und besonders auch die Regierung sich unser erbarmen.
So lautet der Bericht des Augenzeugen Kurat Johann Schöpf.

Am Dienstag, den 2.September, besuchte ein ,,Reporter`` von Zirl aus unser Dorf und berichtete über seine Eindrücke im ,,Tiroler Bote``, Seite 1638. Er schrieb:

Auf der halben Wegstrecke der Straße zwischen Zirl-Inzing waren die Felder schon verschlammt. Der Weidichbach hat schon ziemliche Verwüstungen in Wiesen und Feldern zurückgelassen. Die Straße wird immer schlammiger, je näher man nach Inzing kommt. Seit heute abends ist die Dorfstraße bis zum Gasthaus Krone wieder passierbar; zwei Tage hat es nicht geregnet.

Links und rechts der Straße bildet der aufgeschaufelte Schlamm und Sand einen förmlichen Wall vor den Häusern. Vom Gasthof Klotz weg ist die Straße für jedes Fuhrwerk unpassierbar, denn metertief liegt hier Schutt und Schlamm. Ringsum ist kein Haus, das nicht mehr oder weniger im Sumpf steckt.[*]

Die Verbindung zwischen den Häusern ist provisorisch aus Brettern hergestellt. Wehe dem, der daneben tritt, er steckt bis über die Knie und stellenweise wohl bis an den Hals buchstäblich im Dreck und kann sich aus eigener Kraft nicht herausarbeiten.

Zur Kirche gelangt man nur, wenn man über den Wust von Geröll, Wurzeln, Felstrümmern, Erdschlamm, Steinen, Baumstrünken u.ä. hinwegspringt. Die Kirche ist mehr als 2 Meter, stellenweise vielfach 3 Meter hoch von außen und innen versandet und verschlammt. Durch das Hauptportal kann man nicht ins Innere gelangen, die ist über 2/3 der Höhe verschüttet. Durch die Seiteneingänge muß man tief gebückt eintreten.

Bis zur Höhe der Altartische ist die Kirche mit Murschutt und Schlamm angefüllt. Von den Kirchenstühlen ist nichts zu sehen. Eine Menge Arbeiter sind mit der Reinigung beschäftigt. Beim Eingang an der südlichen Seite[*] ist der Bach eingeleitet, damit er den Schutt wegspülen soll. Auch in der Sakristei ist das schlammige Wasser eingedrungen und hat erheblichen Schaden verursacht.

Vom Friedhof sind Grabsteine fortgerissen und Kreuze weggeschwemmt und liegen zum Teil unterhalb des Dorfes auf den überschütteten Feldern herum.

Vor Häusern, die den Ansturm des Hauptstromes auszuhalten hatten, liegen im gräßlichen Durcheinander Wurzeln und Steinblöcke von oft riesigem Umfange. Bei einem Hause sind ein ganzer ungeheurer Büschel von Holzstämmen in die eingestoßene Haustüre eingezwängt; sie ragen mit ihrem Hinterteil fast senkrecht stehend mehrere Meter lang in die Höhe. Durch geborstene Mauern sieht man im Erdgeschoß Tische, Stühle, Kasten und anderes herumschwimmen. Auch in den Ställen sieht es schrecklich aus. Obstbäume sind entwurzelt und geknickt.

Die entsetzliche Mure nahm nicht dem Bachbett entlang ihren Lauf - hier hatte sich nur ein kleiner Teil abgelagert - sondern zertrümmerte beim Hervorbrechen aus der Enge des Tobels alle Wehren, dem Mühlbache nach auf das Dorf zu.

In fast der ganzen Breite des Dorfes sind oberhalb desselben alle Felder mit Mure metertief überschüttet. An Wegräumen ist nicht zu denken und zum Verwachsen braucht es Jahrzehnte.

Nicht weit vom Ausbruch aus dem Tobel liegt ein Riesenstamm, zehn Meter lang und mehr als 2 Fuß mittleren Durchmessers. Der Koloß lag durch 70 Jahre im Talkessel und wurde von der Mure herausgeschwemmt.

Der ganze Wasserschwall kam gegen zehn Uhr abend während eines heillosen Gewitters mit einem Ruck und in wenigen Minuten war die Verwüstung vollendet. Es ist unbegreiflich, daß nicht mehr Menschen und Vieh zugrunde gingen.

Man male sich das Entsetzen aus: schauerliches Dunkel, strömender Regen, grelle Blitze, rollender Donner und Rauschen, Tosen und Krachen.
Seite 1633 berichtete der ,,Tiroler Bote``, daß drei feste Bauten - sogenannte Türme - der Samenhandlung Jenewein, die zur Aufbewahrung der Tschurtschen dienten, von der Mure ,,wegrasiert`` wurden.

Der Landeshauptmann Hofrat Dr.v.Bossi Fedrigotti, der die Murschäden besichtigte, veranlaßte, daß 20 Mann Maroicic in unser Dorf kamen, um zu helfen.

Der ,,Sageler Vater`` (Josef Schatz 1842-1929) beschrieb in der Familienchronik auch die Mure.[*] Ich führe einige Abschnitte seiner Niederschrift an:

Während des Schutzengelsonntags, am 30.8.1879, herrschte während des ganzen Tages eine außergewöhnliche Schwüle. Gegen abends war ein Gewitter zu befürchten, das dann auch wirklich eintraf.

Ich und meine Frau gingen ca.8 Uhr zu Bett. Wir lagen in einer ebenerdigen Kammer, durch deren Fenster wir zur Straße sehen konnten. Wir waren kaum eine Stunde im Bett, aber noch nicht eingeschlafen, als es anfing zu blitzen und zu donnern und der Regen in Strömen einsetzte.

Da aber das Donnern nie aufhörte, ja noch viel stärker wurde, stand meine Frau auf, um nachzusehen, was los sei. Da aber die Blitz ununterbrochen alles beleuchtete, sah sie zu ihrem Schrecken, daß ein großer Bretterstoß, in dem mehrere hundert Bretter aufgestockt waren - etwa 20 Schritte vom Hause entfernt - von der Mure ergriffen, ca. 8 bis 10 Meter weit fortgeführt und dann umgeworfen wurde.

Im selben Augenblick brachen die zwei Fenster unserer Kammer und die Haustüre ein, die auch auf der Straßenseite war. Bis ich aus dem Bett kam, mußte ich bis zu den Knien im Schlamm und Morast waten.

Nun mußten wir uns, notdürftig gekleidet, aus den ebenerdigen Kammern entfernen und versuchen nach oben zu gelangen; dem stand aber ein großes Hindernis im Wege.

Wegen Hausreparaturen hatte ich die Stiege, die zum oberen Stockwerk führte, abgebrochen; wir mußten daher die Türe, die zur Tenne führte, benützen, um von dort über eine schlechte Notstiege auf das Heubill zu gelangen.

Während wir auf dem Heubill waren, überfiel meine Frau plötzlich eine Ohnmacht, und sie fiel samt dem Kinde, das sie am Arm trug, zu Boden. Es dauerte eine Weile, bis sie sich wieder erholt hatte. Unser halbjähriges Kind[*], das zum Glück keine Ahnung hatte, in welcher Lebensgefahr wir alle schwebten, war fröhlich, hüpfte und lachte. Um so schwerer drückte dies auf unser Gemüt.

Die Gefahr wurde immer drohender. Durch die Säge, die an dem Heuboden angebaut war, rollten die von der Mur getriebenen Baumstämme.

Meine Frau fühlte sich nicht mehr sicher, sie wollte noch höher hinauf, auf den Estrich. Ich erklärte ihr, daß wir auf dem Heuboden sicherer seien, wenn die Hauptmauer standhalte, widrigenfalls wäre ein Aufenthalt auf dem Estrich für uns verhängnisvoller.

Unser Haus besaß oberhalb einen kolossalen Pfeiler mit ein und einem halben Meter Durchmesser. Ich habe mir oft darüber den Kopf zerbrochen, wozu dieser unsinnige Bau dienen sollte. Nun weiß ich es. Vor dem Pfeiler haben sich die Bäume angelegt, gestaut und die Wasserflut links und rechts abgeleitet und so das Haus gesichert, daß es nicht unterspült wird und einstürzt.

Wir mußten drei Stunden zwischen Tod und Leben ausharren, da uns von keiner Seite geholfen werden konnte. Wir sahen wohl Leute mit Laternen, doch die konnten uns nicht beistehen, da auf beiden Seiten des Hauses das reißende Wasser den Zugang unmöglich machte.

Ich versuchte, mit Brettern eine Brücke zu bauen, da ich in der Säge und im Estrich genügend Bretter zur Verfügung hatte; aber alle Mühe war umsonst, da mir das reißende Wasser die Bretter stets fortführte. Endlich gelang es mir, ein schweres Brett so auf einen Stein zu legen, daß ich einen Übergang bauen konnte, über den wir trockenen und sicheren Boden erreichten.

Meine erste Sorge galt meinen Eltern, die etwa 30 Meter oberhalb unserem Hause in einem sehr schlechten Gebäude[*] ihre Wohnung hatten. Ein beherzter Nachbar hatte sie durch das Fenster in Sicherheit gebracht, da es anders nicht mehr möglich war. Ein 14 Meter langer Baumstamm hatte das Wohnhaus meiner Eltern so durchstoßen, daß sein Wipfel bei einem Kammerfenster heraussah. Mit seinem Wurzelstock war er im Hause steckengeblieben und mußte darin abgeschnitten werden.

Die Mur kam in einem Schwall, zwei Meter hoch. Die Haustüre war so verlegt, daß man nur mit großer Mühe durchschlüpfen konnte. Natürlich waren auch die inneren Räume des Hauses hoch angefüllt. Wir mußten einen Monat beim Nachbar Quartier nehmen, bis unser Haus ausgeräumt und bewohnbar war.

Unser Heim war fürchterlich verwüstet, das Rinnsal unter dem Hause und das Räderwerk der Säge waren vollständig mit Geröll angefüllt.

Der Weg, der bei uns vorbeiführte, lag jetzt zwei Meter höher; früher mußte man von der Straße zur Haustüre drei Stufen aufwärts steigen, nun führten 5 Stufen hinab. Vor dem Hause gruben wir das Geröll 2 1/2 Meter breit ab und stützten den Hang mit einer Mauer, um einen ebenen Fahrweg zur Sägespänremise zu erhalten.

Der Schaden, den mir die Mur zugefügt hatte an Geld, Sägewerk, Wohnhaus, Stallung, Wirtschaftsgeräten und an Vorräten von geschnittenem und ungeschnittenem Holz war sehr groß. Besonderen Kummer bereitete mir mein ca. 2 1/2 Jauch großes Feld beim Haus. Die Mur hatte die fruchtbare Erde gänzlich weggeführt, dafür aber einen Steinhaufen zurückgelassen. Die schönen Obstbäume waren alle vernichtet.

Auf meinem Grundstück lagen drei Steine, die gesprengt und zerkleinert werden mußten. Jeder Stein gab 8 bis 10 Pferdefuhrwerke zerkleinertes Material ab. Ein paar Jahre später konnte ich 80 bis 90 m \ensuremath{³} Steine an die Gemeinde Zirl verkaufen. Dort wurden sie bei der Innregulierung verwendet. Der Verkaufserlös war gering.

Die Räumungs- und Kultivierungsarbeiten auf meinem Grundstück führten italienische Arbeiter aus.

Die Schätzungskommission bezeichnete meinen Schaden als den zweitgrößten des Dorfes. Am schwersten schädigte die Mur den Dekan Robert Veit, einen Deutschländer, der kurz zuvor das Schlößl (vormals Jenewein) mit einer großen Wiese, Baum- und Frühgarten gekauft hatte und hier seine Pension verbrachte. Das Schlößl und der Grund waren sehr beschädigt. Da er reich war, hatte er es wohl nicht so empfunden und verzichtete auf jedes Sammelgeld, das für die Geschädigten vorhanden war. Er hat kurze Zeit danach das Schlößl verkauft.

Ich befand mich in einer kritischen Lage. Vor kurzem hatte ich meinen Besitz übernommen, der nun stark entwertet war und für die Zukunft geringeren Ertrag erwarten ließ.

Einer meiner Gläubiger tröstete mich, setzte sich auch bei den übrigen Gläubigern für mich ein, sodaß sie mir einen Jahreszins nachließen und auf eine Kündigung des Darlehens für zehn Jahre verzichteten. Ich faßte neuen Mut und mit Hilfe Gottes und guter Menschen brachte ich in einigen Jahren wieder alles halbwegs ins richtige Geleise. Doch konnte bis heute (1927) nicht der ganze Schaden behoben werden.

Es war ein besonderer Zufall, daß vor 72 Jahren, am selben Tage, nämlich am Schutzengelsonntag, eine Mur unser Dorf überschwemmte. Vor 72 Jahren aber hatte die Mur viel schlimmer gehaust, wurden doch damals 10 Häuser gänzlich weggerissen.[*]
Diese Berichte von Augenzeugen geben uns ein anschauliches Bild von Not, Leid und Angst unserer Vorfahren.

Die Siebner- und die Neununsiebziger-Mure waren, soweit uns bekannt ist, die schwersten und grauenvollsten Katastrophen; sie bedrohten unser Dorf mit Vernichtung. An höherer Stelle soll man sich sogar mit dem Gedanken getragen haben, die Dorfbevölkerung umzusiedeln. Nach Aussagen der Chronisten Johann Schöpf und Josef Schatz war die Siebnermure von beiden die schrecklichere.

Die beiden Muren ergossen ihr Geschiebe über die besiedelte Fläche, die an und ober der Hauptstraße bis zum Unteren Dorfplatz, in der Hube, am Hauptplatz, an der Bahnstraße bis zur Abzweigung des Angerweges lag und über das Gelände oberhalb und unterhalb der Salzstraße. Beim Schretterweg nimmt das Murgeröll gegen Norden immer mehr ab und ist im Riedweg nur mehr teilweise schwach bemerkbar.

Dort, wo man den Murschutt nicht vollständig fortgeschafft hatte, findet man in diesem Wohngebiet viele Häuser, deren Wohnräume teilweise unter dem Straßenniveau liegen. Die heute im Hochparterre gelegenen Räume lagen vor der Katastrophe im ersten Stock, und manche früheren Küchen und Kammern im ehemaligen Erdgeschoß sind nun Kellerräume. Daher gibt es auch Häuser, die einen zweigeschossigen Keller besitzen, wie z.B. Kohlstatt Nr.31, das Schlößl und andere. Die Hauseingangstüre solcher teilweise verschütteten Häuser ist ebenfalls unter dem Straßenniveau oder wurde ins Hochparterre verlegt; daher führen zu ihnen Stiegen an der Außenmauer hinauf. Sie geben unserer Dorfstraße ein eigenartiges Gepräge.

Westlich vom Dorf erstreckt sich das Steinmaterial der Mure bis gegen Toblaten, bis zur ,,Hattinger Höhl`` und bis zum sogenannten ,,Einschnitt`` (das ist die Engstelle der Bahnlinie zwischen dem Murhügelhang und dem Fischerhüttl in der Gaisau). Dieses in der Flur abgelagerte Geröll stammt aber nicht nur von den beiden genannten Muren ab, sondern auch von früheren und späteren.

Doch auch nach diesen beiden großen Muren drohte der Enterbach unserem Dorfe immer wieder mit seiner schrecklichen Geißel aus dem Hundstal. Oft riefen die Sturmglocken unsere Männer zum Bach, um sein Geröll weiterzuschieben und Stauungen zu verhindern.

So überschüttete im Sommer 1893 der Bach Kulturgründe und durchbrach die Landstraße. Am Bahndamm entstand kein Schaden.

Die Nacht vom Sonntag (10.7.1910) auf Montag war für die Inzinger eine Schreckensnacht. Mehrmals riefen Hornsignale und Sturmgeläute unsere Bewohner zum Bach. Sein Bett war mit Geröll und Schutt gefüllt, und das Wasser ging über.

Auf die links und rechts vom Bachgerinne gelegenen Gründe wälzten sich Steine und Kies, und sandiger Lehm bedeckte die Flur. Die Straße zwischen Inzing und Hatting war auf eine Länge von rund 500m durch tiefe Gräben zerstört und für Fuhrwerke unpassierbar. In der Bachrunst und im Dornach lag viel angeschwemmtes Holz.

Eine Komission der Bezirkshauptmannschaft schätzte den Schaden auf 100000 Kronen. Wenn auch der Schaden im Vergleich zu anderen Muren geringer war, erlitten doch einige Besitzer beträchtliche Verluste. Nach einem Bericht des ,,Allgemeiner Tiroler Anzeiger`` Nr.156 vom 13.7.1910 fügte die Katastrophe dem Alois Haller (Kohlstatt 26) besonderen Schaden zu.

Das am 14.71910 vom Gemeinderat erwählte Hilfskomitee (Gastwirt Vinzenz Klotz, Salzstraße 2; Rechtsanwalt Dr.Onestinghel, Salzstraße 22; Gastwirt Josef Wanner, Hauptstraße 22 und Kooperator Federspiel) leitete die Hilfsaktionen.

http://www.pisch.at/Ernst/Wissen/Dorfbuch/Dorfbuch.html