Muren in alter Zeit

Seit uralten Zeiten brachte der Enterbach riesige Mengen von Steinen, Schutt, Gebröckel und Sand ins Tal. Er baute daraus den Schwemmkegel, auf dem heute der größte Teil unseres Dorfes steht. Immer wieder riß er tiefe Gruben und Gräben in den Boden, stapelte Bäume, Äste und Felsbrocken zu hohen Dämmen und verschlammte weithin das Land. Andernorts füllte er die tiefen Wunden des Bodens, die frühere Muren geschlagen hatten mit Trümmern und Moränenschotter und schichtete sein Geschiebe zu Hügeln auf. Ständig änderte er so das Aussehen unserer Fluren.

Als sich dann die Menschen bei uns ihre Hütten bauten, griff er auch nach ihnen, vernichtete sie und ihre Tiere, zerstörte ihre Häuser und vermurte ihre mühsam errungenen Kulturflächen.

Dabei ist der Enterbach ein meist wasserarmes und harmlos aussehendes Bächlein. Er hat ein Niederschlagsgebiet von rund 13km \ensuremath{²} (8,5km lang und durchschnittlich 1,5km breit), wovon ca. die Hälfte ober der Waldgrenze liegt. Er entwässert 67% unserer Gemeindefläche.

In der Nähe der Almgebäude (1638m) endet der ebene Almboden - bei ca.5,6km[*] - und der Bach stürzt mit 25-30% Gefälle zwischen steilen Lehnen talwärts. Er durchfließt hier das Gebiet des Glimmerschiefers, der das Grundgestein unserer Heimatberge ist.

Diese Zone ist überwiegend mit eiszeitlichem Lockermaterial, mit Altschutt und Blöcken früherer Muren sowie mit Schotter bedeckt, den die Erosion seit langem fortlaufend aus dem brüchigen Gestein abbröckelt. Wenn Hagelkörner und Regengüsse den Boden aufbrechen und aufweichen, kommen die Erde, die Steinmassen und die Schutthaufen ins Rutschen und rasen mit gigantischer Kraft durch den engen Tobel auf unser Dorf zu.

Diese rund 1300 Meter lange Strecke liefert den überwiegenden Teil des Geschiebes. Besonders rechtsufrig liegen viele Bruchstellen im Gelände, welche stellenweise 100-150 Meter über die Bachsohle hinaufreichen.

Ungefähr 500 Meter weiter abwärts (etwa bei 3,8km) engen, ca.1700 Meter lang, steile Felswände das Bachbett ein. Der Abfall beträgt hier in der Klamm durchschnittlich 23%. Das Gestein ist da widerstandsfähiger und der Bach bringt daher aus diesem Gebiet weniger Geröll.

Ab 2,1km oberhalb der Mündung fließt der Enterbach zwischen bewaldeten Hängen, die immer weiter zurücktreten.

900 Meter abwärts erreicht er den ins Tal vorgeschobenen Schwemmkegel und fließt mit ca. 8% Gefälle dem Inn zu.

Auf der Bachstrecke zwischen 3,8 und 4,8km münden mehrere Rinnsale und kleine Nebengewässer in den Enterbach, die nicht nur Material für die Mure bringen, sondern auch den Almweg immer wieder zerstören.

Unser Enterbach ist ein böser, unberechenbarer Unhold, der ständig unserem Dorf mit seiner furchtbaren Geißel droht. Er zählt zu den gefährlichsten Wildbächen des Oberinntales.

Doch denken wir auch daran, daß die Geröllmassen, die der Bach ins Tal warf, den Inn an den Fuß der sonnseitig gelegenen Hänge drängten und so das rechte Talufer zu unserem Vorteil verbreiterten. Unserem Bach haben wir den Heimatboden zu verdanken, auf dem sich heute unser Leben abspielt. Der trockene Schuttkegel war es, der die Menschen schon frühzeitig zum Besiedeln anlockte.

Es gibt weder aus dieser Zeit noch aus den nächstfolgenden Jahrhunderten schriftliche Aufzeichnungen darüber, wieviel Not und Leid der Bach den Menschen brachte. Sicher waren damals schon weite Flächen vermurt. Unser alter Flurname Rages deutet darauf hin. Sprachwissenschaftler leiten ihn vom römischen ,,ravicos sc. argos`` ab. Er bedeutet ,,graues Feld``.

Die Urkunde über Muren, die am weitesten zurückgreift, ist ein gerichtlich beglaubigter Vergleich vom 11.8.1503. Ihn schlossen ab: Die Vertreter der Gemeinde Inzing eines- und Michael Vogel für sich und seine Frau Ursula andern- und Sebastian Kölderer drittenteils ,,von wegen des Schadens durch die lön am pach von den Huntzthal her ab fließend jetz, auch vormals und noch möcht geschehen zu künftig zeit``.[*]

Darin ist deutlich ausgedrückt, daß es schon in fernen Tagen Murbrüche gab und daß unsere Vorfahren damit auch für die Zukunft rechneten.

Auch ein anderes Schriftstück weist auf frühere Muren hin. Darin wird einem Inzinger am 8.1.1643 das Recht verliehen, die großen Steine, welche das ,,Gewässer`` vor Jahren auf den Fluren liegen ließ, zu Mühlsteinen zu verarbeiten. Die alten Leute erzählten von einer Mure, die 1621 große Verwüstungen angerichtet habe.

Muren waren dem Volke stets unheimlich; es schrieb sie dem Wirken dämonischer Kräfte zu. Unsere Bevölkerung erzählte von einem Drachen, der immer wieder aus dem Hundstal hervorbrach. Zwei Sagen - ,,Der blasende Drache`` (Kapitel [*], Seite [*]) und ,,Der große Wurm`` (Kapitel [*], Seite [*]) - deuten darauf hin.

Die Flurnamen Stoangjammer (Gp. Nr.526 und 613)[*] und Trakenwiese (Drachenwiese, Gp. Nr249 und 271) erinnern ebenfalls an die Muren. Nach der Sage blieb auf diesen Gründen ein aus dem Hundstal herausgeschwemmter Drache liegen.[*]

http://www.pisch.at/Ernst/Wissen/Dorfbuch/Dorfbuch.html